Es ist nichts los, gar nichts los, in Kangerlussuaq. Die karge Landschaft ähnelt meiner Vorstellung von unbewohnten Planeten, der graue staubige Sand färbt meine Schuhe ein. Ich laufe, die längste Runde, die man innerhalb der Ortschaft laufen kann.
Das heißt konkret, ich laufe einmal um den Flughafen. Der ist das Zentrum hier und immerhin einer der größten im Land. Das könnte ein Grund sein, zu glauben, es müsste mehr los sein.
Wo ein großer Flughafen ist, da muss doch auch sonst was los sein. Nur wo viele Menschen wohnen, lohnt sich auch ein großer Flughafen.
Tja, diese Formel gilt nicht für Grönland. Kangerlussuaq hat zwar den landesweit wichtigsten Flughafen, 90% aller Reisenden kommen hier an. Zeitgleich gibt es aber gerade einmal rund 540 Einwohner. Ach und die Fluggäste, die bleiben meist nicht lang, sondern steigen nur um, auf dem Weg nach woanders. Obwohl ich das wusste, habe ich gleich einen mehrtätigen Aufenthalt gebucht. Warum nur?
Endlich ticken die Uhren langsam
Bei meiner Ankunft im Hostel, Samstagvormittag, fragte ich direkt nach der Tundra Tour. Von der hatte ich online gelesen. Durch die Landschaft Grönlands fahren und dabei gute Chancen auf Wildsichtung haben – das klang interessant. Mir wurde der Tourenkalender gereicht. Super, da gab es reichlich Auswahl. Ich suchte mir also den nächsten Termin raus und wollte vorfreudig buchen. Da wurde ich freundlich lächelnd abgewiesen. „Oh sorry, but I have to ask the manager, because we are already busy.“ Äh na gut, dann würde ich eben später wiederkommen, wenn sie den Manager gefragt hätte. „He is not here today.“ Dann eben ab zur Tourismus-Zentrale von Kangerlussuaq, dem Flughafen. Die Aussage dort war noch enttäuschender: „Sorry, I have no paper anymore, you have to come back in two days, monday at 8 o clock“. Kein Papier mehr? Sie meinte wohl, keine Tickets mehr? Ok. Also keine Tundra Tour vor Montag. Aber es war doch erst Samstagmittag. Was macht man mit der ganzen Zeit in diesem kleinen Ort? Hier gibt es doch nur ein paar wenige Ausflüge, einen Supermarkt, den Flughafen und ein einziges Museum.
Also zunächst den Einkauf für’s Abendessen erledigt und dann ins Museum. Lerne ich eben erst einmal etwas, über die Entstehung von Kangerlussuaq, dachte ich mir. Als ich mich dem Museum näherte, fuhr gerade ein Touristenbus ab und dann sah ich auch schon den alten Herren vom Museum die Fahnen runterholen.
Hä? Der schließt ja jetzt wohl nicht. Die sollen doch bis 16 Uhr offen haben, es ist aber gerade erst 14:50 Uhr. An der Museumstür angekommen, dann die Antwort: Sommeröffnungszeiten 10 – 15.30 Uhr. Na super, in nur 40 Minuten durch das Museum hetzen? Nee, ich muss das schon voll ausreizen, wenn es hier sonst nichts gibt. Also dem alten Herren gesagt, ich käme morgen wieder. „It’s closed tomorrow. Open on monday again“. Achje, nagut dann das also auch erst am Montag. Noch ein schönes Wochenende gewünscht und auf den Rückweg gemacht.
Ich laufe extra einen kleinen Umweg, die größte Runde, die man innerhalb des Ortes laufen kann, um dann auch wirklich alles gesehen zu haben. Eine dreiviertel Stunde später ziehe ich meine staubbedeckten Schuhe im Hostel aus. Es ist kurz vor 16 Uhr. Und es gibt nichts mehr zu tun. Keine Tundra Tour, kein Museum und surfen kann ich auch nicht. Der Internetzugang kostet 15 Euro die Stunde, die habe ich sogar bezahlt, aber dann war die Verbindung so langsam, dass ich es auch gleich hätte sein lassen können. Es ist nichts los, gar nichts los. Ich überlege schon fast, ob ich noch einmal die 30 Minuten zum mickrigen und überteuerten Supermarkt laufe, um noch einmal eine Weile in die öden Regale zu starren. Da muss ich über mich selbst schmunzeln.
Endlich, da ist sie, die ersehnte Langeweile. Daheim, habe ich immer so viel zu tun, so viele Dinge, die ich mir vornehme, dass ich gar nie richtig zur Ruhe komme. Ich bin immer in Bewegung und brauche das auch irgendwie. Trotzdem habe ich häufig gedacht: “sich mal wieder richtig zu langweilen, das wäre doch mal was”. Mal nur die Gedanken kreisen zu lassen, ohne noch auf dem Handy rumzutippen, was für den Blog zu schreiben, unterwegs zu einem Treffen zu sein oder den Haushalt zu schmeißen. Und nun, nun gibt es wirklich nichts zu tun. Keine Klamottenläden zum Bummeln, das Museum ist zu, Touren kann ich erst ab Montag machen, ich bin zum Digital Detox gezwungen. Herrlich. Da muss ich erst nach Grönland, in diesen winzigen Ort, um mich genüsslich langweilen zu können? Verrückt. Ich lächel zufrieden, fühle mich so richtig weit weg von allem, unerreichbar. Wie auf einem anderen Planeten. Das ist unbezahlbar.
Wo wenig ist, genießt man das Wenige viel mehr
Nachdem ich am Samstag den Tag in Slow Motion ausklingen lassen hatte, beschloss ich am Sonntag eine Wanderung in die karge Landschaft zu unternehmen. Tatsächlich gibt es eine handvoll Wanderrouten rund um den Ort, kürzere und längere. Wer es richtig intensiv mag, der kann hier sogar den Arctic Circle Trail starten und in 7 – 10 Tagen 160 km weit zur nächsten Stadt (Sisimiut) wandern. Ruhe und Abgeschiedenheit sind dann auf dem Weg garantiert. Denn anders als auf amerikanischen Wanderwegen, trifft man im abgelegenen Grönland nicht massig Mainstream-Wanderer.
Für mich sollte eine Tageswanderung reichen. Laut Reiseführer erwartet einen in der Landschaft um Kangerlussuaq eine „enorme Flora- und Faunavielfalt”. Klingt doch vielversprechend, dachte ich mir und machte mich auf den Weg. Ein paar Stunden später, stehe ich immer noch im Nichts, drehe mich um mich selbst, schaue in alle Richtungen und lache. Von vielen Blumen oder Bäumen kann ich weit und breit nichts sehen. Eine “hügelige Mondlandschaft überzogen mit Moosen, Gräsern und kleinen Büschen” würde es schon eher beschreiben. Nagut. Was erwartet man auch in einem Land, welches die meiste Zeit mit Eis bedeckt ist? Ein grüner saftiger Wald, wird hier wohl nicht wachsen und wenn es viele verschiedenen Arten von Gräsern sind, dann zählt das wohl auch als “enorme” Vielfalt der Flora.
Je länger ich laufe, desto mehr gewöhne ich mich an den Anblick der Landschaft. Schlussendlich kann ich dem staubigen kargen Bild doch noch etwas abgewinnen. Wenn sich die Augen der sonst üblichen Reizüberflutung entwöhnt haben, sieht auch das gelbgrüne Grasbüschel richtig hübsch aus.
Doch noch Kultur?
Am Montag stand ich dann, wie dem alten Mann versprochen, wieder am Museum, zahlte brav den stolzen Eintritt und schlich durch die staubigen Räume. Bloß nicht zu schnell, das hier war schließlich meine Aufgabe für den gesamten Vormittag. Ich lernte also etwas darüber, dass es den Ort so nur gab, weil die Amis hier im zweiten Weltkrieg einen Flughafen bauten, der Ihnen zur Zwischenlandung auf dem Weg nach Europa diente. (Na, jetzt macht das mit dem Flughafen Sinn, oder?) Warum ausgerechnet hier? Kangerlussuaq ist einer der wenigen Orte Grönlands, der nicht direkt an der Küste, im Sommer trotzdem schneefrei ist und extrem wettergeschützt liegt. An 240 Tagen im Jahr ist der Himmel hier klar. Als die Amis irgendwann den Ort verließen, blieb der Flughafen, der nun für internationale Flüge genutzt wird. Fast noch interessanter, weil emotionaler, fand ich zwei für den Ort prägende Tiergeschichten. Eine über einen Eisbären, der sich vom weit entfernten Norden bis hierhin verirrt hatte und die andere von Willi dem Moschusochsen. Ich erzähle sie dir jetzt nicht, das würde den Rahmen sprengen, du hast heut sicher noch anderes zu tun und außerdem, wer weiß, vielleicht reist du auch noch nach Grönland und liest sie im kleinen alten charmant staubigen Museum selber nach.;)
Der besondere Reiz von Kangerlussuaq
“Moschusochsen” ist trotzdem das richtige Stichwort. Denn stimmt, da war ja noch was. Am Nachmittag sollte nun endlich die Tundra Tour stattfinden. Mit einem russischen Laster über die steinigen Schotterwege Richtung unbewohntes Land. Im Reiseführer stand ja “enorme Flora und Fauna”. Und da wird es interessant. Denn in der Tat, die Tierwelt in dieser Region Grönlands mag zwar nicht der Vielfalt eines südamerikanischen Urwaldes gleich kommen, dafür sind die Arten, die es hier gibt, nur in sehr wenigen Regionen der Welt daheim. Rentiere, Polarfüchse, Polarwölfe und Schneehasen waren hier schon immer zu Hause. Moschusochsen wurden dahingegen vor rund fünfzig Jahren angesiedelt. Ein Forscher hatte 27 Jungtiere hergebracht und diese haben sich inzwischen zu einer ca. 3.500 starken Population entwickelt. Heute sind sie die wahren Stars im sonst eher unscheinbaren Kangerlussuaq. Klar, dass ich hoffte wenigsten einen der haarigen Kraftprotze zu sehen.
Wir ruckelten die unebenen Straßen entlang, hielten immer mal wieder an Aussichtspunkten, schauten aufs weite Land und versuchten einen Hinweis zu erspähen. Das Fernglas wurde rumgereicht. Immer wieder falscher Alarm: doch nur ein Stein. Wenn das Land weit ist, stehen wilde Tiere eben auch nicht am Wegesrand und warten auf die neugierigen Touristen. Wer kann es ihnen übel nehmen? Ich jedenfalls nicht. Deshalb hielt sich meine Enttäuschung auch in Grenzen, als wir im Laster Richtung Hostel zurück ruckelten, ohne auch nur ein Tier gesehen zu haben. Doch dann plötzlich, ich schaue aus dem Fenster und weiter unten, da bewegt sich ein Stein, das kann doch nicht sein. Ist das jetzt doch noch ein Moschusochse? Ich greife das Walkietalkie, welches uns Passagier mit der Fahrerkabine in Kontakt hält und lasse den Laster stoppen. Tatsächlich, da ganz weit hinten, ist ein Moschusochse. Man muss die Augen schon ordentlich zusammenkneifen und den Zoom der Kamera komplett ausreizen, um ihn zu erkennen.
Nachdem er bemerkte, dass wir ihn beobachteten, setzte er sich in Bewegung und verschwand hinter dem Hang. Jetzt waren alle glücklich, hatten wir doch noch einen gesehen.
Ein paar Tage später meint es das Glück noch einmal richtig gut mit mir. Bei einem abendlichen Ausflug sehe ich zwar aus großer Entfernung, dafür aber wie von der Natur perfekt arrangiert: Eine Moschusochsengruppe im goldenen Licht des Sonnenunterganges auf einem entfernten Hügel.
Beseelt von diesen Wildlife Begegnungen, fing ich an den Ort immer mehr zu mögen. Es war doch eigentlich alles da, was es brauchte, um glücklich zu sein. Nur, dass ich mit meiner westlichen Großstadtprägung angereist war und meine Vorstellungskraft nicht stark genug war, um mich schon zuvor auf die Abgeschiedenheit einzustellen.
Doch jetzt, da ich so richtig angekommen war, begriff ich immer mehr, wie einmalig dieser Ort war.
Der letzte Beweis kam mit einer weiteren Tour, einen Tag später. Wieder stieg ich in den Russentruck, dieses mal mit deutlich mehr Touristen. Vermutlich allen, die gerade überhaupt in Kangerlussuaq untergekommen waren, also so ca. 30. Ziel war das Inlandeis, welches nach einer 45 minütigen Fahrt oder einer Tageswanderung zu erreichen war. Dorthin, wo die ewige Eisfläche im Sommer begann. Wieder ging es holprig über die Schotterstraßen, bis wir dann vor diesem bizarren Bild standen:
Der Anfang der Eisfläche, einfach so, da ist er. Ein Stück weit sind wir sogar drauf gelaufen, es knisterte unter den Füßen und gut rutschig war es natürlich auch. Von dort an, Eis so weit das Auge reichte. Ein irres Bild für mich deutsches Großstadtkind. Auf dem Rückweg sichteten wir dann sogar noch ein Rentier, welches flott den Abhang runter machte, als es uns sah.
Geht doch! So öde ist Kangerlussuaq doch dann gar nicht. Ganz im Gegenteil. Klar, viel los ist nicht, ist ja auch nur ein winziger Ort und eine arktische Landschaft.
Ich persönlich finde dennoch, dass Kangerlussuaq ein Muss für alle Grönlandreisenden ist und zwar für mind. zweieinhalb Tage. Dann hat man genug Zeit sich an die grönländische Geschwindigkeit zu gewöhnen, Wandern zu gehen, das Museum zu besuchen, sich vom Handy zu entwöhnen, die Inlandeistour mitzumachen, ein wenig zu lesen, zu entspannen und in diesem bizarren Land anzukommen.
Grönland Videos:
- Grönland Vlog 01 – Abenteuer Inlandeis Tour (Kangerlussuaq)
- Grönland Vlog 02: Abenteuer pur! Mit dem Helikopter zum Eqi Gletscher.
- Grönland Vlog 03: Eine fast gefährliche Buckelwal Begegnung
Und wenn du überlegst, selbst nach Grönland zu reisen und noch mehr dazu lesen magst, dann klick unbedingt auch in meine anderen Reiseberichte und meine Packliste für Grönland rein. Wenn du alle detaillierten Infos in einem Buch haben willst, kann ich dir den DuMont Reiseführer Grönland* empfehlen. Den habe ich selbst sowohl für die Reisevorbereitung, als auch für die Reise selbst genutzt.
Schreibe einen Kommentar